Mein bewährtes Santos Reiserad zu schwer, mein TrengaDe Rennrad wenig flexibel und inzwischen auch zu unkomfortabel habe ich mir im Winter nach langem Zaudern ein altersgerechtes Gravelbike von Bianchi zugelegt. Nach einigen Ausfahrten über verschlammte Waldwege wie über gut asphaltierte Straßen war ich angenehm vom Komfort und der Vielseitigkeit überrascht. Bei der “Bikepacking” Ausstattung zweifel und probiere ich noch. Für eine erste kürzere Radtour in die Berge leiht mir Frieder seine Taschen für das kleine Gepäck.
Mein Plan ist, von Lindau am Bodensee den Rhein aufwärts über den Splügenpass zum Comer See zu fahren. Nach Umfahrung der Rhein-Po-Donau Wasserscheide soll der Rückweg dann entlang des Inns zurück ins Allgäu führen.
1. Tag: Lindau – Chur, 103km, 350Hm
Endlich regnet es! Die paar Tropfen bei der Abfahrt in Lindau stören nicht, bald hinter Bregenz klart der Himmel auf und es wird warm. Über sehr gute Radwege geht es zum Rheindammweg, den ich bis Chur nur noch zum Einkaufen und Essen verlasse. Bei wunderschönem Alpenpanorama, mit Blick auf den kanalisierten Rhein und oft parallel zur Autobahn rolle ich den hohen Bergen entgegen. Daß mich die ersten 100km bei sehr günstigen Bedingungen schließlich doch anstrengen, läßt auf schlechten Trainingszustand schließen.
2. Tag: Chur- Sufers, 54km, 1100Hm
Ich hatte mich auf lockere 50km und ein paar hundert einfache Höhenmeter eingestellt und war wegen morgentlichen Regens erst spät losgefahren. Die empfohlene Strecke verläuft zunächst landschaftlich schön auf Schotterwegen – leider sind die Schotterwege nass und entsprechend schwer rollt das Rad. In den Waldstücken sind “100m Anstieg auf 1000m Strecke” ausgeschildert, das Radfahren ist mühsam aber machbar. Mit keinem meiner anderen Räder wären diese Strecken fahrbar.
Entspannt fahre ich durch die Ortschaften um Thusis und sehe mir dort – leider nur von aussen – die eigenartige Steinkirche in Cazis an. Wie wohl der Entscheidungsprozess in Kirchenbehörden, Kirchenvorstand und Gemeinde zum Bau dieser Kirche verlaufen sein könnte?
Hinter Thusis beginnt der Anstieg zum Splügenpass. Die Strecke bis Sufers – in der spektakulären Landschaft des Hinterrhein – wird bestimmt von Tunnelfahrten, Tragepassagen, geduldigem Kurbeln mit kleinster Übersetzung und Schimpftiraden auf rücksichtslose Motorradfahrer.
3. Tag: Sufers – Splügenpass – San Cassiano, 53km, 700Hm
Kurz nach 10Uhr stehe ich in Splügen am Anfang der Passstraße. Ein Lebensmittelladen lädt zum Prokrastinieren ein und ich kaufe mir noch ein Protein Getränk. Nachdem ich gelesen habe, daß die sehr guten Fahrer etwas über 30 Minuten für die Strecke benötigen und der Durchschnitt der Fahrer ca. 1 Stunde benötigt, setze ich mir 2 Stunden als Ziel für das Erreichen der Passhöhe.
Nach den ersten Kehren habe ich den Rythmus gefunden mit dem ich unter der anaeroben Schwelle bleibe und mich mit Schrittgeschwindigkeit den Berg hinaufkurbel. Mit der Variation der Steigung muss ich das Tempo anpassen. Ich stelle fest, daß ich nach Kehren auf der Talseite fahrend das Tempo unwillkürlich erhöhe – gleiches passiert, wenn ich eine Rotte Motorräder den Berg hinaufdröhnen höre. Überhaupt Motorradfahrer im Slalomrausch… Blöd ist, daß ich das Problem habe, sollte bei dem Slalom mal der entscheidende Zentimeter fehlen.
Tatsächlich erreiche ich mit drei kurzen Pausen nach 2 Stunden den Pass in 2114m Höhe, ziehe meine Jacke über und beginne die Abfahrt.
Die Abfahrt nach Chiavenna ist eine Herausforderung eigener Art. Auf der 30km langen Abfahrt mit 1800 zu vernichtenden Höhenmetern und 51 nummerierten Kehren bremse ich die Geschwindigkeit herunter bis die Hände schmerzen. Die für mich neuen Scheibenbremsen funktionieren zuverlässig und ich werde mich wohl demnächst mit deren Wartung befassen müssen. Bremsgummis einer klassischen Felgenbremse wären nach dieser Abfahrt jedenfalls verschlissen.
4. Tag: San Cassiano – Comer See – San Cassiano, 49km, flach
Weil ich keine Lebensmittel habe um mir in der kleinen Ferienwohnung auf dem Bauernhof in San Cassiano ein Frühstück herzurichten fahre ich gleich nach Aufstehen und Trikotwaschen nach Colico am Comer See zum Frühstück. Es ist wunderbares Fahren in der Ebene auf meist ordentlichen und ruhigen Wegen – das Rad rollt! Einige Rennradfahrer fahren zügig an mir vorbei. Daran habe ich mich gewöhnt und es schmälert nicht mehr den Genuss des Selbertretens.
Auf dem Lago di Mezzola fährt ein Renneiner in Begleitung eines Trainerbootes seine Bahn ab. Warum bin ich eigentlich noch nie auf diesen Seen gerudert?
So geht Ruhetag!
5. Tag: San Cassiano – Malojapass – Maloja, 41km, 1700Hm
Der Start meiner persönlichen Königsetappe ist kurz vor 9Uhr – ohne Frühstück. Beginn der offiziellen Passstrasse ist ein Kreisel in Chiavenna, den ich bereits vor zwei Tagen in anderer Fahrtrichtung passiert habe. Ich wechsel einige Male zwischen empfohlener Rad-Nebenstrecke und Hauptstrasse, je nachdem wie groß der jeweilige Leidensdruck ist und ob ich die Abzweigungen rechtzeitig entdecke. Solange die Steigungen auf Asphalt nicht über 8-9% hinausgehen ist alles gut, Asphaltpassagen mit >9% oder große Steigungen auf Schotterwegen setzen mir zu. Auf diesen Abschnitten bin ich gezwungen mit der vorhandenen Übersetzung über meine Möglichkeiten zu gehen. Das hat zur Folge, daß ich insbesondere im letzten steilen Abschnitt mit vielen Serpentinen häufig kurze Pausen einlege.
Gegen 17Uhr erreiche ich Maloja. Auch als ich jünger war habe ich das Bergfahren nie besonders gekonnt und gemocht – daher waren meine Schwierigkeiten heute keine Überraschung. Daß ich es trotz meiner Zweifel begonnen und ohne Schaden überstanden habe, macht mich zufrieden!
6. Tag: Maloja – Inntal – Scuol, 83km, 670Hm
Für die Streckenplanung hatte ich das Online Programm “cycle•travel” mit der Einstellung “Gravelbike” genutzt. Das führte heute dazu, daß mir der Inn-Radweg fast durchgängig empfohlen wird. Die ersten Kilometer vorbei an den drei Bergseen sind der reine Genuss. Als ich bereits auf Höhe von Silvaplana bin und dort auf dem Navi nach Sils Maria suche muß ich feststellen, daß ich – geniessend – das Nietzsche Haus um 400m verpasst habe.
Nach den anfangs schön glatten und zum Teil asphaltierten Wirtschaftswegen geht es in den Wald auf geschotterte Wirtschaftswege mit kurzen aber heftigen Anstiegen und der Hauptstrasse unerreichbar auf der anderen Seite des Inns. Gestern am Malojapass waren die Carbon-Rennräder vorherrschend, heute sind es die E-Mountainbikes. Ich treffe aber auch gewöhnliche Radfahrer, ohne Carbon, ohne Motor und einige davon mit viel Gepäck.
Als ich genug vom “Mountainbiking” habe, wechsel ich für die letzten Kilometer auf die Hauptstrasse zum “Rennradfahren”.
7. Tag: Scuol – Inntal – Via Claudia – Fernsteinsee, 103km, 740Hm
Das Radfahren im breiter werdenden Inntal wird zunehmend einfacher. Mehrfach kommen mir relativ große Gruppen mit ca. 20 Radfahrern entgegen. Gruppen mit älteren Teilnehmern fahren mit elektrischer Unterstützung, Gruppen mit jüngeren Teilnehmern sehen martialisch aus und fahren ohne Unterstützung. Vor einem Supermarkt mache ich gleichzeitig Pause mit einer solchen jüngeren Gruppe und registriere den auch hier scheinbar unvermeidbaren Kasernenhofton: “Abfahrt in 2 Minuten!” “Helm zu!”. Diese Veranstaltungen werden “Transalp” oder “Alpencross” genannt und die Teilnehmer zahlen dafür um Sprüche anzuhören. Ich freue mich für die Leiter dieser Touren, daß sie mit Radfahren Geld verdienen.
8. Tag: Fernsteinsee – Fernpass – Lechtal – Wertach, 71km, 970Hm
Den Vormittag verbringe ich am Fernpass. Beim Fahren dieses Passes geht es nur nachrangig darum einen Bergsattel zu überwinden. Bisher war ich gewillt die geschotterten Nebenstrecken für Radfahrer als positiv motiviert für Wanderer und Radfahrer anzuerkennen. Der sehr schlechte Radweg über den Fernpass ist deutlich negativ motiviert: Radfahrer dürfen die Blechlawine nicht stören. Auf Schotterstrecken zu fahren nur um LKWs, Autos und Motorrädern nicht den Platz auf der Straße zu nehmen, ist für mich kein motivierendes Argument.
In Biberwier treffe ich beim Frühstück vor dem Supermarkt drei nette Rollerfahrer, die die Fahrt über den Fernpass auf der Hauptstrasse noch vor sich haben. Ich hoffe, die drei haben es gesund überstanden.
Am Ortsausgang von Nesselwang fahre ich langsam eine ansteigende Landstrasse hinauf. Von links mündet eine Wohnstrasse mit deutlichem Gefälle auf die Landstrasse ein. Ich höre eine Frau rufen “…, fahr langsam!” und sehe ein etwa dreijähriges Mädchen auf einem kleinen Roller die Wohnstrasse hinunter auf die Landstrasse zurollen. Das Kind rollt quer über die Landstrasse, stürzt am Bordstein auf der gegenüberliegenden Seite und steht zum Glück sofort auf. Mit meinem Versuch vom Rad zu springen und das Kind aufzufangen bin ich zu langsam. Es ist eine Szene, die mir noch eine Weile durch den Kopf geht.
Mein Fazit für heute: Trotz Nachsaison sind mir die Alpen die letzten beiden Tage viel zu voll. Zuviel Autos, zuviel Motorradfahrer und auch zuviel Radfahrer. Das Riesengebirge oder die Karpaten könnten eine Überlegung wert sein.
9. Tag: Wertach – Donau/Rhein Wasserscheide – Lindau, 89km, 660Hm
Das Radfahren im Allgäu auf ruhigen kleinen Strassen ist angenehm. Kleinere Probleme bereitet mir hier die Navigation. Entlang eines großen Flusstals gibt es meistens nur zwei Optionen: links oder rechts vom Fluß. Die Fahrt heute durchs Allgäu quert das Illertal und die Donau/Rhein Wasserscheide und es gibt mehrere Möglichkeiten. Verwirrend wird es auf den letzten 30 Kilometern vor Lindau weil die Radwegbezeichnungen nicht über die Ländergrenzen Deutschland-Österreich-Deutschland hinwegreichen und ich mich in den letzten Tagen zunehmend an diesen Schildern orientiert hatte. Ich mache es mir einfach und fahre erstmal ins schöne Bregenz – von dort kenne ich den Weg schon.
Trotz der kleinen Schwierigkeiten und einiger heftiger Regengüsse wird der Tag ein guter Abschluß einer schönen Radtour durch die Alpen. Ich danke einem Freund und einer Freundin, die mir gezeigt haben das Schöne zu sehen und zu leben.
Die Fahrt begann am 7.9.2022 und endete am 15.9.2022. Ich bin von den insgesamt 646km geschätzt 1/4 auf unbefestigten Wegen gefahren und habe dabei 6890Höhenmeter hinter mich gebracht.