Belohnung

Die Fahrt beginnt mit einem langen mühsamen Anstieg, die Strasse ist noch nass vom Regen am Morgen, der Himmel bedeckt und zu allem Überfluss muss ich noch an der hinteren Bremse basteln. Obwohl ich jede Menge Gründe für schlechte Laune habe, geht es mir gut.

Gegen Mittag ist der Anstieg geschafft, der Himmel ist blau und vor mir zeigt sich auf 300m – 400m Höhe eine atemberaubende offene Landschaft. Es muß das Wissen um diese kommenden unbekannten “Belohnungen” sein, die mir die manchmal unangenehmen Phasen leichter werden lassen.

Mein Radreiseführer geht auf diese Landschaft nicht näher ein. In den Parkbuchten stehen keine Wohnmobile mit Menschen die die Landschaft fotografieren. Für die Meisten scheint diese Strecke nur ein anderes lästiges eintöniges Stück Straße auf dem Weg zum “wirklich sehenswerten” Nordkapp zu sein. Für mich ist es eine der schönsten Etappen der ganzen Tour. Es ist “Raumgreifendes Radfahren” – wie Segelfliegen – nur tiefer.

Ich erwarte jetzt die Langstrecken-Nordkapp-Radfahrer zu treffen. Zwar treffe ich jetzt häufiger Radfahrer und spreche mit einigen von ihnen (zwei Schweizer mit Rennrädern und Rucksäcken, zwei Belgier mit Tandem und Anhänger, zwei Schweden), diese sind aber in Tromsø gestartet oder fahren andere kürzere Strecken. Statt dessen sehe ich aber andere Nordkapp-Exoten: ein Treckerfahrer mit Wohnwagen aus Dänemark und ein Mofafahrer mit Kinderanhänger aus Udevalla – bin gespannt was ich morgen noch zu sehen kriegen werde.

Doch wieder E6

Die Windverhältnisse zwischen den Bergen und den Fjorden sind unübersichtlich. Es ist nicht offensichtlich wie sich der Wind in der Höhe in den Tälern bemerkbar macht. Angekündigt ist Wind aus Süd und auf dem ersten Abschnitt (Nord-Ost) habe ich angenehmen Rückenwind. Dafür habe ich auf dem Abschnitt in Richtung Alta (Süd) den erwarteten kräftigen Gegenwind.

Das Fahren an den großen Fjorden hat eine Besonderheit: Ich kann heute schon die Berge und Geländestrukturen sehen die ich morgen befahren werde und ich sehe unter Umständen noch nach einem Tag die Berge von der gestrigen Fahrt.

Seit zwei Tagen bin ich wieder auf der E6 unterwegs. Meine Erfahrungen mit dieser vielbefahrenen Straße ca. 1000km südlich waren sehr schlecht (“Nie wieder E6”) aber ich war erleichtert, daß hier im Norden der Verkehr doch deutlich abgenommen hatte. Bis heute: Vermutlich weil das Wochenende vorbei ist sind jetzt auch wieder schwere LKW unterwegs und vor Alta nimmt der Verkehr insgesamt deutlich zu. In einem der Tunnel (erlaubt für Radfahrer!) fahre ich auf einem ca. 1m breiten Seitenpodest zwischen Tunnelwand und Fahrbahn. Es geht in dem Tunnel deutlich bergauf und ich fahre entsprechend langsam. Ich hatte die Norweger bisher als rücksichtsvolle Autofahrer erlebt – aber diese Fahrt ist der Horror. Die schweren LKW mit Anhänger fahren – vermutlich am Begrenzerlimit – mit 1-1.5m Abstand an mir vorbei. Zwischendurch gibt es kleine Vorsprünge in der Tunnelwand. Mit den Packtaschen habe ich vielleicht eine Toleranzbreite von 40cm die ich auch bei Druckwellen der LKW nicht verlassen darf. Als ich merke, daß sich die Lenkergriffe rutschig anfühlen – Angstschweiß – halte ich vorsichtig an und fahre erst weiter als kein LKW mehr zu sehen ist.

Vor welchen motorisierten Zeitgenossen fürchte ich mich am meisten bei diesem “Krieg der Strasse”? 1. Schwere LKW mit Anhänger, 2. PKW mit Anhängern die breiter als das Zugfahrzeug sind und deren Fahrer selten mit Anhänger (Wohnwagen) fahren,  3. Reisebusse,  deren Fahrer schon 1000km gefahren sind, denen die Leute im Bus schon seit drei Stunden auf die Nerven gehen und die schnell ihr Tagesziel erreichen wollen.

Der letzte Tunnel vor Alta ist für Radfahrer gesperrt. Der Umweg ist erheblich und bedeutet etliche zusätzliche Höhenmeter. Dennoch bin ich froh diese ruhige und sehr schöne Strecke zu fahren. Es war wieder das alt bekannte Dilemma zwischen “Strecke machen” und “Geniessen”.

Sommerlich warm

Heute ist nicht nur der Himmel blau sondern es ist auch sommerlich warm. Vor 7 Uhr bin ich auf der Straße – der Radführer hat eine anstrengende Strecke angekündigt. Die Strasse ist völlig leer und ich sehe zwei Elche mitten auf der Strasse stehen und in den Fjord (oder sonstwohin) blicken.

Mal wieder habe ich versäumt mich rechtzeitig vor dem Sonntag mit Proviant einzudecken. Nach etwa 20km fahre ich an einem “Reisebus-Hotel” vorbei. Eine niederländische Reisegruppe  hat das Frühstück beendet und bereitet sich auf die Weiterfahrt vor. Traurig aussehende Senioren sitzen mit Koffern in der Lobby. Ich nutze die Gelegenheit und fräse mich einmal hemmungslos durch das Frühstücksbuffet um die Speicher für den Tag zu füllen. Alles was die Senioren beim Frühstück nicht durften – ich darf es. Unbeantwortet bleibt die Frage, warum die Busreisenden so traurig aussahen. Weil sie sich beim Frühstück so eingeschränken mussten oder weil sie sich jetzt wieder einen Tag durchschaukeln lassen müssen? Vielleicht mußten sie sich auch wegen des bevorstehenden Durchschaukelns beim Frühstück einschränken und waren deshalb doppelt traurig?

Bisher hatte ich einzelne Rentiere gesehen. Heute sehe ich an einem “Pass” auf ca. 400m Höhe zum ersten Mal eine große Rentierherde auf den noch verbliebenen Schneeflächen. So anstrengend die Strecke heute ist, so spektakulär sind einige Ansichten dieser schönen Landschaft.

Während ich langsam die vielen Steigungen hochkurbel arbeite ich weiter an meinen Vorurteilen und versuche sie zu bestätigen. Eines lautet: “Deutsche Wohnmobile werden nur von Männern gefahren. Die Beifahrer sind immer Frauen”. Diese Behauptung ist fast richtig, sie gilt nicht für VW-Busse (zwei Ausnahmen) und nicht bei Wohnmobilen aus Nordfriesland und/oder Paaren aus der Alternativen Szene (eine Ausnahme). Ich habe darüber nachgedacht das gleiche Vorurteil auf Motorradfahrer auszuweiten – leider ist meine Fähigkeit der Geschlechtsbestimmung von vorbeifahrenden Motorradfahrern sehr ungenau. Ein weiteres Vorurteil lautet: “Harley Fahrer haben niemals eine Helmkamera. Helmkameras werden nur von Motorradfahrern mit Enduro Maschinen verwendet.” Hier läuft die Untersuchung noch.

Norwegen – eine einzige Outdoor Sportarena

Endlich gibt es mal wieder blauen Himmel! Damit sieht Tromsø vor dem Hintergrund der Berge und des Wassers noch schöner aus. Das Radfahren macht wieder Spaß, besonders als es auf der ruhigen “91” zwischen schneebedeckten Bergen in Richtung Lyngen geht. Das ständige auf und ab ist heute erträglich.

Zwischen den zwei Fähren fahre ich gemeinsam mit einem Deutsch-Norweger, der vor 18 Jahren aus Segeberg nach Tromsø umgesiedelt ist. Das sinnvolle Tempo zwischen den Fähren wird von den Ankunfts- / Abfahrtszeiten der Schiffe vorgegeben und liegt nur wenig über meinem normalen Reisetempo. Er macht mit dem Rennrad eine Tagestour und ich erfahre Einiges über die vielen Outdoor Aktivitäten denen er und die Menschen aus Tromsø hier nachgehen. Darunter natürlich Bergsteigen, Skilaufen und  Mountainbiking.

In einem Artikel lese ich, daß ganz Norwegen eine einzige Outdoor-Sport Arena sei. Den Eindruck kann man tatsächlich bekommen.

Lustlos nach Tromsø

Trotz des gestrigen Ruhetags habe ich keine Lust zum Radfahren. Das Frühstück dehne ich soweit wie möglich aus, belade dann das Rad und mach mich träge auf den Weg. Erst nach der ersten Pause wird die Stimmung besser und ich fahre lockerer das kurze verbleibende Stück bis Tromsø.

“Merkel sieht schwarz für deutsche Autoindustrie” steht bei SPIEGEL-online. Seit 25 Jahren bin ich Teil dieser Veranstaltung – und nüchterne Beobachtung im eigenen Unternehmen scheint ihr Recht zu geben. Ein erkennbar nicht mehr funktionierendes Geschäftsmodell in dieser Größenordnung abzuwickeln wird schmerzen.

Tromsø ist die erste größere Stadt in Norwegen, die ich mir etwas näher ansehe. Ich stehe mit dem Rad an der Ampel und werde von einer Fußgängerin angesprochen: “Woher kommen Sie denn aus Niedersachsen?” (Auf meiner Packtasche ist das Niedersachsen Wappen als leicht verschlüsseltes Herkunftszeichen angebracht.) “Wir sind auf einer Aida-Kreuzfahrt”. Die Stadt ist voller Kreuzfahrt Touristen. Restaurants, Bars oder Cafe’s waren unterwegs sehr selten – hier gibt es sie reichlich. Die Atmosphäre ist angenehm entspannt.

In der (hölzernen) Domkirche höre ich ein kleines Orgelspiel. Kirche und Musik wirken zusammen und sind mit Worten nicht zu beschreiben. Mir wird klar warum ich unterwegs keine Musik mit Kopfhörern gehört habe – es ist einfach nicht überzeugend. Die Kopfhörer sind überflüssiges Gewicht.