Wieder friere ich in der Nacht. Das Frühstück besteht aus trockenem Baguette, Haribos und Milch. Ich kann mir keinen Kaffee kochen, weil ich seit Sevilla noch keine passende Gaskartusche für meinen Kocher gefunden habe. Die Mitnahme von Gaskartuschen im Flugzeug war nicht erlaubt. Der Adapter für die in Spanien/Frankreich üblichen Kartuschen liegt in Gifhorn.
Ich muss das Zelt feucht zusammenpacken und schleppe mich danach müde und lustlos zur ersten Pause mit Kaffee und Sandwich.
In der Hoffnung auf einen guten Radweg / eine gute Streckenführung bin ich zu einem weiter östlich verlaufendem Jakobsweg gefahren, der mich in Richtung Orleans bringen sollte. Als ich den Weg erreiche muss ich feststellen, daß dieser „Weg“ auch mit gutem Willen nicht mit dem Rad zu fahren ist. Nach ersten Versuchen dem Weg zu folgen stehe ich vor einer Wiese und die Entscheidung ist klar. Ich werde den Rest der Strecke auf der Hauptstrasse (D-950) fahren. Als dann Regen einsetzt, schwere LKW mit viel zu geringem Abstand und viel zu hoher Geschwindigkeit an mir vorbeifahren ist der Moment gekommen an dem ich mich heulend in den Strassengraben legen möchte. Nur weil ich keine passende Stelle dafür finde fahre ich weiter.
Keine Gaskartusche, zu leichter Schlafsack, nachlässige Streckenplanung, Haribos zum Frühstück – das sind zuviel Fehler. Im Moment sieht es so aus, als ob nicht das (Hinter-)rad sondern der Fahrer das größte Problem ist.
Abschied vom Atlantik
Einerseits war die Nacht im Zelt kälter als erwartet. Andererseits erinnere ich mich wieder daran, daß Zelten auch entspannter sein kann als Übernachtungen im Hotel.
Vormittags fahre ich in der Nähe der Sanddünen die letzten Kilometer bis zur Fähre hinüber nach Royan. Es kommen mir viele Radwanderer entgegen. Viele mit grossem Gepäck, einige sogar mit Anhänger. Dieser Abschnitt ist schön und zu Recht eine Standardstrecke der Radwanderer.
Als ich in Le Verdon am Fährhafen ankomme legt die Fähre in Richtung Royan gerade ab. Ich freue mich über die verlängerte Pause und nehme das als Beleg dafür, daß ich wieder zurück in den Reise-Modus gefunden habe.
In Royan verabschiede ich mich erstmal vom Atlantik.
Nachdem ich die Umgebung der Stadt verlassen habe fahre ich auf kleinen Strassen zwischen Getreidefeldern ins Landesinnere. Es kommt mir vor wie im Sommer in der Krummhörn.
Ich wehre mich innerlich gegen das Vergleichen gemäß „sieht aus wie…“ und kann es doch nicht lassen. Der Antrieb Muster, Wiederholungen oder Strukturen zu entdecken ist zu groß. Irgendwie will ich mir die komplexe Welt etwas übersichtlicher machen, manchmal hat eine solche Reduktion Vorteile.
Der Campingplatz heute gehört zur günstigeren Campingplatzkategorie. Ausser mir übernachtet noch eine Gruppe Monteure in einer der Hütten. Dafür ist das Essen gut, reichhaltig und günstig und die (Küchen-, Kneipen-, Camping-) Chefin nett und chaotisch.
Premiere für das neue Zelt
Während des Vormittags wechselt es zwischen Nieselregen und Starkregen bis ich vollständig durchgeweicht bin. Gegen Mittag endet der Regen, ich wringe Jacke und Handschuhe aus, kippe das Wasser aus den Schuhen und esse ein Sandwich bevor ich weiterfahre. Es ist erstaunlich, wie lange der Körper die Wärme bei Aktivität halten kann.
Der „La Velodyssee“ verläuft auf einer alten Bahntrasse mit mehrere Kilometer langen Geraden. Nur besonders einfache Gemüter und Ostfriesen finden das Fahren darauf nicht eintönig. Ich bin kein gebürtiger Ostfriese, finde das Fahren erträglich und sage mir in Momenten der Anfechtung „keep rolling“
Der Wetterbericht behauptet, dass es in der Nacht trocken bleiben soll. Der Moment ist gekommen, dass ich mein neues leichtes Zelt (1.2kg) ausprobiere. Auf dem Campingplatz sind einige Radfahrer und wenige der unvermeidlichen deutschen Wohnmobile. Für die schwäbischen Motorradfahrer mit Helmkamera hat die Saison noch nicht begonnen.
Rollen durch Kiefernwälder
Während des Ruhetags in St. Jean de Luz regnet es fast ununterbrochen. Am Nachmittag in einer Regenpause ersetze ich die gerissene Speiche. Langsam werden die Ersatzspeichen knapp.
Ich muss feststellen, daß die Preise seit Portugal erheblich gestiegen sind. Trotzdem gönne ich mir Baguette mit Käse und andere leckere Sachen. Wenn das mit den Preisen so weitergeht, dann werde ich demnächst doch mal zelten und selber kochen. In Spanien war das keine interessante Option – es gab ausserhalb der grossen Städte praktisch immer sehr günstige Übernachtungsmöglichkeiten.
Heute vor der Abfahrt treffe ich einen Schwaben, der im gleichen Hotel übernachtet hat und der mit seinem Mountainbike den sehr anspruchsvollen „Camino del Norte“ an der Küste bis Santiago de Compostela fahren möchte. 29″-Räder, Vollfederung, Carbonrahmen, grosse Tasche hinterm Sattel, grosse Tasche quer am Lenker und kleiner Rucksack. Er behauptet, daß Rad und Ausstattung zusammen 25kg wiegen. Das sind etwa 20kg weniger als mein Rad & Gepäck. Ich habe auf dieser Tour diese Kombination schon mehrfach gesehen und komme mir mit meinem Rad wie Heinz Helfgen (ca. 1950) in seinem Buch „Mit dem Rad rund um die Welt“ vor (Patria WKC mit Torpedo 3-Gang Schaltung). Er plant drei Wochen Fahrzeit bis Santiago de Compostela ein. Es ist eine völlig andere Art des Radfahrens.
Die Fahrt am Vormittag nach Biarritz und Bayonne ist schwierig. Bei strömendem Regen, kräftigen Windböen, Schein-Radwegen (zum Radweg erklärte Bordsteine, Gossen und Fusswege) und dichtem Autoverkehr geht es über jeden Hügel der Gegend. Das also soll jetzt der hochgelobte Küstenradweg „La Velodyssee“ sein?
Hinter Bayonne beginnen physisch reale Radwege. Der Regen lässt nach und ich rolle am Nachmittag mit Genuss durch Kiefernwälder von einer Feriensiedlung zur nächsten.
Frankreich
Die ersten Kilometer rolle ich entspannt durch das enge Tal des Oria in Richtung San Sebastian auf guten Radwegen herunter.
Vor San Sebastian überholt mich Raul auf einem einfachen Mountainbike. Er fragt nach meinem Ziel (Irun) und schlägt vor, dass ich ihm durch die Stadt folge. Für kurze Touren unter 60km schont er sein Rennrad und nutzt statt dessen sein Mountainbike. Im feinsten Fahrradkurier Stil gibt er mir Windschatten, führt mich ortskundig über Fusswege und rote Ampeln direkt in die Innenstadt und nach kurzem Stadtrundgang weiter in Richtung Irun. Allein hätte ich länger gebraucht – und weniger Spaß gehabt.
Kurz vor Irun reißt mit lautem Knall eine Speiche am Hinterrad. Mein Optimismus nach der Reparatur vor zwei Tagen war wohl verfrüht. Trotzdem freue ich mich in Frankreich angekommen zu sein und auf den kommenden Ruhetag.