Ruhetag in Santiago de Compostella

Gestern auf der letzten Etappe bis Santiago de Compostela wechsel ich zwischen Hauptstrasse und Caminho (Jakobsweg). Immer wenn mir der Verkehr auf der Hauptstrasse zuviel wird, biege ich auf den Caminho ab. Nach einer Weile nervt mich das langsame Fortkommen dann sosehr, dass ich den Stress der Haupstrasse wieder akzeptiere.
Immer noch bin ich verwundert, wie schnell sich der Charakter der Tage verändert. Den einen Tag fahre ich bei Sonnenschein und Hitze entlang von Dünen am Atlantik, den nächste Tag fahre ich bei Regen und Wind durch eine hügelige dünn besiedelte Landschaft.

Heute ist Ruhetag und es regnet ohne Unterbrechung. Eine Szene im Waschsalon: Ein Mann kommt mit schwerem Gang und mit filmendem Handy herein. Er filmt sich, mich, die Waschmaschinen und die Hinweisschilder. Die Dame des Waschsalons richtet ein paar Grussworte an seine kolumbianische Fangemeinde. Schließlich ist die Performance beendet und er muss seine Wäsche in den Trockner umräumen.

In der Stadt treffen die Wanderer (besser “Pilger”?) auf Besuchergruppen von Kreuzfahrtschiffen und normale Touristen. Einigen Menschen sieht man an, dass es Sie einige Energie gekostet hat hier anzukommen. Ich sitze auf dem Platz vor der Kathedrale und spüre einer Atmosphäre aus Sport, Stolz, Nachdenklichkeit, Religiosität, Internationalität, Individualität und Gemeinschaftsgefühl nach.

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Die vielen Hinweise an der Straße auf EU-Förderung des Caminho wundern mich nicht. “Caminho/Jakobsweg” ist eine starke europäische Marke, an der es sich lohnt teilzuhaben.

Ich ziehe Zwischenbilanz nach zwei Wochen: 1300km, 10.000Höhenmeter, angeschlagene Hinterradnabe, Problem mit der Vorderradbremse, die rechte Ferse schwillt langsam ab, ein Regentag. Die Gegend um Albufeira und Lissabon herum gefällt nicht. Gefallen haben mir der Donana Nationalpark, der Naturpark “Sudoeste Alentejano e Costa Vicentina”, die Estrada Atlantica zwischen Nazare und Vieira da Leiria, Porto einschliesslich Umgebung und Santiago de Compostella.

Albergue de Redondela

Nach dem Kopfsteinplaster vom Vortag lasse ich mich auf keine weiteren Experimente ein und fahre durchgängig auf der Hauptstrasse bis zur Grenze nach Spanien. Der Himmel ist bedeckt, Regen ist für heute und morgen angekündigt.

An Strassenkarten habe ich “Portugal-Süd” 1:200000 (ein Weihnachsgeschenk) und einzelne Seiten aus dem “Grossen Strassenatlas Europa” 1:500000 dabei. Vor der Fahrt habe ich “Tracks” der Strecke von anderen
Radfahrern/Wanderern als Referenzen auf das Garmin geladen. Die etwas feinere Planung am Vortag mache ich mit OSMAND. Wenn nötig, erzeuge ich dabei eine “Route” und lade diese zusätzlich auf das Garmin. Während des Fahrens nutze ich neben der Darstellung der vorbereiteten “Tracks” zusätzlich die “Routing” Funktion des Garmins. Grundlage aller
elektronischen Planungen sind die aktuellen OpenStreetMaps. Man könnte glauben, dass diese Wunderwerke der Technik immer zu gleichen Ergebnissen kommen – das ist nicht so. Oft kann ich zwischen zwei oder drei Varianten wählen. Und die letzte Entscheidung treffe ich ohnehin auf der Strasse.

Zum Fahren ist heute soviel zu sagen: Das Klettern im “Parque Natural do Monte Aloia” ist schön und anstrengend, die Durchfahrt durch das Stadtgebiet von Vigo (“spanisches Gelsenkirchen”) ist elendig und gefährlich. Ich frage mich, wie die Wanderer dieses Stück überstehen.
Als der angekündigte Regen einsetzt, erreiche ich 20km hinter Vigo eine Pilger Herberge. Ich teile mir mit zwei Männern eine Viererkabine in einem grossen Schlafsaal. Diese Kabinen haben etwa die Grösse eines Schlafwagenabteils im Zug. Ein “Böd” auf den Shetlands wäre mir lieber.

Kopfsteinpflaster

Die 20-30km vor und nach Porto sind angenehm und auf guten Wegen zu fahren. Anders als bei der Fahrt durch die Vororte von Lissabon ist der Radweg hier durchgängig.
Mir kommen einige Radwanderer mit verdächtig standardisierter Ausrüstung (Navi, Kartenhalter, Packtaschen) entgegen, offenbar haben sie gerade eine vorbereitete Radtour begonnen. Die Reiseveranstalter haben Recht damit, die Strecke von Porto in Richtung Süden anzubieten und rechtzeitig vor Lissabon enden zu lassen.
Bei der Einfahrt in die Stadt mache ich einige Fotos – die pittoresken Gebäude, die Brücke und die Schiffe sehen toll aus.

Vor den “Caves” kann ich den dort ausgeschenkten Portwein schon auf der Strasse riechen.

Kurz hinter Porto ruft mir ein Kneipenbetreiber über die Strasse zu: “Santiago Sir? Do you want to have a stamp? Stempel?”. Ich lehne ab und nehme zur Kenntnis, daß ab jetzt der Spuk um den Jakobsweg beginnt. Es sind noch gut 200km bis Santiago de Compostella und ich sehe etliche Wanderer mit Rucksack und Jakobsmuschel. Der ausgeschilderte Jakobsweg führt hier durch die Dünen und ist für Radfahrer an vielen Stellen gesperrt und vermutlich auch nicht empfehlenswert. Ich halte mich daher auf dem Radweg in der Nähe der Küste bis dieser endet und es auf einer kleinen Kopfsteinpflasterstrasse weitergeht – soweit eine normale Erfahrung. Neu wird die Erfahrung, als dieses Kopfsteinpflaster nach einigen Kilometern nicht enden will. Ich muss feststellen, dass es hier abseits der Hauptstrasse ausschliesslich reine Kopfsteinpflasterstrassen gibt (nicht einmal ein schmaler Asphaltstreifen am Rand). An mein vorgeschädigtes Hinterrad denkend rumpel ich notgedrungen die letzten Kilometer des Tages langsam meinem Ziel entgegen.

Grundsätzliche Fragen nach dem Sinn des Radfahrens

Nachdem ich gestern Abend schon die letzten Kilometer auf der “Estrada Atlantica” gefahren war, setze ich die Fahrt heute auf dieser Strasse fort. Eine sehr angenehm zu fahrende Strasse: wenig Steigungen und ein abgetrennter Radweg!

Mir kommen mehr Rennradfahrer als Autos entgegen. Die Strasse führt direkt an den Dünen entlang und über weite Strecken vorbei an verbrannten schwarzen Kiefern(?)wäldern. Es hat hier 2017 grosse Waldbrände gegeben.

Der übliche Nordwind scheint auf West bzw. Südwest gedreht zu haben und ich komme gut voran. Nach einer kurzen Fährfahrt geht es von Aveiro bis Ovar direkt an der Lagune Ria de Aveiro entlang.
Ich beschliesse diese angenehme Flachetappe in Furadouro etwa 2-3 Fahrstunden vor Porto. Der Hausherr meines Quartiers zeigt grosses Interesse an meiner Tour. Er berichtet von vielen Wanderern, die in dieser Jahreszeit auf dem portugiesischen Jakobsweg unterwegs seien und von Radfahrern, die allerdings immer nur 60-70km pro Tag fahren würden. Nachdem ich meine Fahrweise erklärt habe, haben wir eine lange grundsätzliche Diskussion über den Sinn des Radfahrens. Ich könne ja nicht berichten was ich gesehe habe, weil ich ja nur radfahren würde. So wie ich fahren würde, könne ich nur alleine fahren etc. Der gute Mann hat Recht, mir war das auch schon aufgefallen. Eigentlich müsste meine Tour so aussehen und beschrieben werden. Ich habe keine Ahnung, warum ich fahre wie ich fahre und warum mich Dinge nicht interessieren, die mich interessieren sollten.

Schlechte Nachrichten

Seit zwei Tagen merke ich, dass irgendwas mit dem Hinterrad nicht in Ordnung ist. Schon mehrfach habe ich Speichen und Felge kontrolliert, dabei aber nichts feststellen können. Heute nehme ich mir an einer ruhigen Strasse etwas mehr Zeit und stelle entsetzt fest, dass ein Speichenloch an der Rohloffnabe einen Riss hat! Das ist unterwegs nicht reparierbar. Mit Glück hält das Hinterrad jetzt noch bis Gifhorn durch, mit Pech zerlegt sich irgendwann das Hinterrad innerhalb weniger Kilometer – das wäre dann das Ende der Tour.
Ausserdem verliert die Vorderbremse Hydrauliköl und ich nutze die Vorderbremse nur noch im Notfall. Für steilere längere Abfahrten reicht die hintere Bremse allein nicht aus und die richtig heftigen Berge kommen erst noch. Mein schon länger gefasster Vorsatz “nie wieder Hydraulikbremsen” nützt mir jetzt nichts. Jetzt ist der befürchtete Fall eingetreten.

Überhaupt nervt mich das Radfahren hier in Portugal zunehmend mehr und die gelegentlichen “Belohnungen” – wie manche Aussichten auf den Atlantik – haben es schwer, meine Stimmung wesentlich zu verbessern. Als Massnahme zur Verbesserung der Stimmung beschliesse ich, nicht mehr über den Tourismus hier an der Küste zu lästern. Ich habe schliesslich diese Strecke selbst gewählt.

Gelegentlich ergänze ich meine Foto Sammlung von Ruderbooten, die zur Dekoration an Strassen aufgestellt wurden. Hier ein “Zweier mit Steuermann”.