Rollen durch Kiefernwälder

Während des Ruhetags in St. Jean de Luz regnet es fast ununterbrochen. Am Nachmittag in einer Regenpause ersetze ich die gerissene Speiche. Langsam werden die Ersatzspeichen knapp.

Ich muss feststellen, daß die Preise seit Portugal erheblich gestiegen sind. Trotzdem gönne ich mir Baguette mit Käse und andere leckere Sachen. Wenn das mit den Preisen so weitergeht, dann werde ich demnächst doch mal zelten und selber kochen. In Spanien war das keine interessante Option – es gab ausserhalb der grossen Städte praktisch immer sehr günstige Übernachtungsmöglichkeiten.

Heute vor der Abfahrt treffe ich einen Schwaben, der im gleichen Hotel übernachtet hat und der mit seinem Mountainbike den sehr anspruchsvollen “Camino del Norte” an der Küste bis Santiago de Compostela fahren möchte. 29″-Räder, Vollfederung, Carbonrahmen, grosse Tasche hinterm Sattel, grosse Tasche quer am Lenker und kleiner Rucksack. Er behauptet, daß Rad und Ausstattung zusammen 25kg wiegen. Das sind etwa 20kg weniger als mein Rad & Gepäck. Ich habe auf dieser Tour diese Kombination schon mehrfach gesehen und komme mir mit meinem Rad wie Heinz Helfgen (ca. 1950) in seinem Buch “Mit dem Rad rund um die Welt” vor (Patria WKC mit Torpedo 3-Gang Schaltung). Er plant drei Wochen Fahrzeit bis Santiago de Compostela ein. Es ist eine völlig andere Art des Radfahrens.
Die Fahrt am Vormittag nach Biarritz und Bayonne ist schwierig. Bei strömendem Regen, kräftigen Windböen, Schein-Radwegen (zum Radweg erklärte Bordsteine, Gossen und Fusswege) und dichtem Autoverkehr geht es über jeden Hügel der Gegend. Das also soll jetzt der hochgelobte Küstenradweg “La Velodyssee” sein?
Hinter Bayonne beginnen physisch reale Radwege. Der Regen lässt nach und ich rolle am Nachmittag mit Genuss durch Kiefernwälder von einer Feriensiedlung zur nächsten.

Frankreich

Die ersten Kilometer rolle ich entspannt durch das enge Tal des Oria in Richtung San Sebastian auf guten Radwegen herunter.
Vor San Sebastian überholt mich Raul auf einem einfachen Mountainbike. Er fragt nach meinem Ziel (Irun) und schlägt vor, dass ich ihm durch die Stadt folge. Für kurze Touren unter 60km schont er sein Rennrad und nutzt statt dessen sein Mountainbike. Im feinsten Fahrradkurier Stil gibt er mir Windschatten, führt mich ortskundig über Fusswege und rote Ampeln direkt in die Innenstadt und nach kurzem Stadtrundgang weiter in Richtung Irun. Allein hätte ich länger gebraucht – und weniger Spaß gehabt.
Kurz vor Irun reißt mit lautem Knall eine Speiche am Hinterrad. Mein Optimismus nach der Reparatur vor zwei Tagen war wohl verfrüht. Trotzdem freue ich mich in Frankreich angekommen zu sein und auf den kommenden Ruhetag.

Zurück an die Atlantikküste

In Osorno versuche ich im Hof des Hotels eine Rettungsaktion für das Hinterrad.
Danach habe ich wieder Vertrauen in das Rad und bin optimistisch trotz des ausgerissenen Speichenlochs weiterfahren zu können. Erst die Möglichkeit das Material (Rad, Boot, Twin…) zu verstehen und im Zweifel zu reparieren geben mir das Vertrauen.

Nach eintöniger Fahrt auf leeren sehr gut fahrbaren Strassen durch die Hochebene bin ich von der Stadt Burgos angenehm überrascht. Die Universitätsstadt wirkt modern und wohlhabend. Selbst in den Randbereichen gibt es gute Radwege. Das Stadtzentrum mit der Kathedrale ist schön. Es scheint in der Stadt mehr Studenten als Touristen zu geben.
Statt in Richtung Pamplona weiterzufahren, verlasse ich in Burgos den klassischen Camino-Francaise in Richtung Norden und folge der Trasse der Eisenbahnlinie Madrid-Irun. Nach dem Abitur bin ich mit einem Freund auf einer sehr unbequemen Interrail Reise hier entlanggekommen – eine Gelegenheit für Erinnerung.
Hinter Vitoria-Gasteiz kommen die Berge näher, die vorher nur in der Ferne zu sehen gewesen waren.

Ich will weiter nach Frankreich. So richtig wohl fühle ich mich hier nicht, ohne dass ich konkrete Gründe benennen könnte. Die Landschaft ist schön, die Strassen sind gut, das Wetter ist meist angenehm. Aber ausser in Touristenzentren kann ich mich mit niemandem unterhalten – vielleicht ist das der Grund.

Berge und Gegenwind

Ich bin jetzt eindeutig im Sport Modus.

Gestern muss ich zu meiner Überraschung auf dem Weg nach Leon noch über einen weiteren Pass, bevor ich die Hochebene erreiche.
Heute habe ich mit einer lockeren Flachetappe gerechnet und kämpfe mich statt dessen mühsam gegen kräftigen Nord-Ost Wind voran. Trotz einiger landschaftlich schöner Perspektiven finde ich im Moment keinen Anreiz irgendwo länger zu bleiben. Ausserdem muß ich feststellen, daß eine weitere Speiche am Hinterrad – diesmal aus der Felge – gerissen ist. Das Hinterrad wird also in absehbarer Zeit seine Eigenschaft des Radseins verlieren. Ich hoffe, daß es mich wenigstens noch die ca. 350km bis zur französischen Grenze bringen wird.
Ein geschätzter Mensch schreibt mir, daß ein Vorteil des langsamen Fahrens darin bestünde, daß man über alles mögliche nachdenken könne und sich kreative Gedanken entwickeln könnten. Das trifft für mich nur sehr bedingt zu. Die meiste Zeit denke ich über Berge, Wind, Kilometer und das Hinterrad nach: Wodurch unterscheidet sich das “Radsein” vom “Rotsein”? (das eine ist offensichtlich eine Eigenschaft, die sich spontan ändern kann) Was unterscheidet substantivierte Adjektive von substantivierten Verben? (rot, die Röte vs. rollen, das Rollen, das Rollende, das Rad) Gibt es eigentlich Funktionenrealismus? usw.

Ich fahre lange Strecken direkt am Jakobsweg entlang, der hier direkt neben der gut ausgebauten und wenig befahrenen Strasse verläuft. Auch hier (300km von Santiago entfernt) kommen mir noch viele Wanderer entgegen. Im Unterschied zu Santiago grüssen hier praktisch alle mit einem “Bon Camino” – was für mich auf die Dauer etwas mühsam wird. Mir fällt auf, daß etwa die Hälfte der Wanderer fernöstliches Aussehen haben und die örtliche Gastronomie sich offenbar auf diesen Umstand eingestellt hat.
Ein entgegenkommender Radfahrer kommt auf meine Strassenseite und hält an. Marcello aus Argentinien spricht weder Englisch noch Deutsch. Ich spreche keine seiner Sprachen. Wir unterhalten uns trotzdem prächtig über den Wind und über die bisher gefahrene Strecke, wünschen uns gegenseitig alles Gute, klopfen uns zur Bestätigung brüderlich auf die Schultern und fahren schliesslich weiter – er mit Rückenwind und ich mit Gegenwind.

Am Abend in Osorno bekomme ich schließlich einen Bericht von einer Motorradtour durch Spanien, Portugal, Marokko, Mauretanien und Senegal. Nachdem ich mein Leid mit dem Hinterrad geklagt habe bleibt die Frage unbeantwortet, ob sein Katalysator den Sprit im Senegal überlebt hat. Irgendwie finde ich die Vorstellung tröstlich, daß auch anderen etwas kaputt geht.

Von Galizien über die Berge nach Kastilien

Als ich aus Santiago de Compostela in Richtung Osten herausfahre kommt mir ein Strom von Wanderern (geschätzt 2Wanderer pro 100m, bei 6km/Std. sind das 120Wanderer/Std. oder 600Wanderer/5Std.) unter Regencapes an der Hauptstrasse entgegen. Am frühen Nachmittag hört der Regen auf und ich verlasse die Caminho Hauptstrecke nördlich in Richtung Lugo. Kleine gute Strassen, kleine Dörfer, kleine Landwirtschaften, wenig Verkehr, grüne Wiesen mit Steinmäuerchen eingefasst, Wälder und … viele Hügel. Galizien ist schön, eine solche Landschaft habe ich nicht in Spanien vermutet.
Hinter Lugo fahre ich neben der Autobahn auf der “N-VI”, die mich bis Ponferrada bringen soll. Die Strasse ist kaum befahren, in gutem Zustand und ideal zum Radfahren. Irgendwo in einem Hotel an der Strasse vor dem Anstieg zum 1099m-Pass bei Pedrafit übernachte ich.

Widerwillig beginne ich heute mit den Anstiegen, werde aber durch wunderschöne Landschaften und hübsche kleine Orte entlohnt.
Mit Überqueren des Passes habe ich Galizien verlassen und befinde mich in Kastilien. Das Landschaftsbild ist schlagartig anders, die Vegetation ist weniger üppig als vorher.
Am Abend bleibt noch Zeit für einen Rundgang durch die Altstadt von Ponferrada und für einen Blick auf die alte Burg.

Die beiden letzten Tage hatten viele Höhenmeter. Mein Radreiseführer für den Jakobsweg unterteilt die Strecke Ponferrada-Santiago daher in drei schwere Tagesetappen. Ich habe etwas an meiner Bergfahrtechnik gefeilt (u.a. den Sattel nochmal leicht verstellt) um ausdauernder lange Anstiege fahren zu können. Neidisch habe ich den Rennradfahrern mit ihren 7kg-Rädern hinterhergesehen und über ein leichteres Rad (vor allem ohne schwere Hydraulikbremsen!) nachgedacht.