… darüber muss man schweigen.

Heute ist Ruhetag in Cambridge.

Ich habe nur einen kleinen Teil der Texte von Ludwig Wittgenstein gelesen und von diesem Teil allenfalls Bruchstücke verstanden. Die Gedanken des vor 100 Jahren fertiggestellten Tractatus wurden von ihm selber und von anderen inzwischen weiterentwickelt. Die Biographien beschreiben einen extremen und gedanklich unabhängigen Menschen. Die Grabstätte und der Grabstein – man muss etwas suchen – kann an Einfachheit und Beschränkung nicht überboten werden. “Wovon nicht gesprochen werden kann, darüber muss man schweigen.”📺

Im “Cambridge University Press Bookstore” stehen in den Regalen griffbereit all die Bücher, die man lesen und verstehen müsste um unser aktuelles Wissen über uns und das, was die Welt im Innersten zusammenhält, überblicken zu können. Deprimiert darüber, dass mir das in absehbarer Zeit nicht gelingen wird, verlasse ich das Geschäft. Stattdessen wende ich mich den Fahrradgeschäften der Stadt zu und erstehe eine neue kurze Radhose.

Nehme ich die Zahl der Colleges und die Menge und das Aussehen der Touristen- und Studentengruppen als Indikator, dann ist offensichtlich, dass akademische Titel aus Cambridge international stark nachgefragt sind.

Was Cambridge aber gegenüber z.B. Göttingen als Universitätsstadt wirklich heraushebt, sind die vielen nebeneinander liegenden Rudervereine direkt in der Stadt an der Cam. Es gibt einen durchgehenden Bootssteg, der sich über mehrere hundert Meter erstreckt. Da würde auch den Kollegen von Normannia Braunschweig das gleichzeitige Anlegen von zwei Vierern gelingen.

Neue Klischees bilden sich

Zunächst fahre ich auf Treidelpfaden entlang des Lee-Canal weiter. Bald liegen die Reste der Vorstädte Londons hinter mir.

Danach wird die Landschaft hügelig, die Strassen werden wieder enger und kurvenreicher. Ich durchfahre und geniesse die hübschen kleinen Orte.

Meine negativen Stereotypen anderer Verkehrsteilnehmer waren im letzten Jahr in Norwegen männliche Wohnmobilfahrer und schwäbische Motorradfahrer. Diese Rolle könnten in diesem Jahr Frauen in C- und D-Klasse SUV übernehmen. Es ist erstaunlich wie häufig mir diese auf den engen und kurvigen Strassen entgegenkommen.

Beschrankte Bahnübergänge an vielbefahrenen zweigleisigen Bahnstrecken kannte ich praktisch nicht mehr. Hier gibt es sie regelmässig. Diese Übergänge sind hier im Grundzustand geschlossen und werden nur gelegentlich geöffnet. Das hilft um das Leben zu entschleunigen, sofern man derjenige ist, der vor der Schranke wartet.

Die Pension in Cambridge erreiche ich pünktlich mit Einsetzen des Regens.

London: ticked

Kein vernünftiger Mensch fährt mit dem Rad nach London um London anzusehen. Um den Buckingham Palast zu sehen reist man besser mit Auto, Bus oder Flugzeug an.

Ich fahre lange Strecken durch wenig schöne Vorstädte Londons. Der Radwanderweg R1 führt mich durch sehr (sehr) hässliche Ecken und ich wechsel meine Taktik auf “Kürzeste Strecke zur Innenstadt”. Das Fahren auf den Hauptverkehrsstrassen ist kein Spass und ich verstehe allmählich, warum sich hier die paar Radfahrer grüssen: es gibt ausserhalb der Innenstadt nicht besonders viele von ihnen.

Nach den Mühen der Vorstädte bietet sich in der Innenstadt ein völlig anderes Bild: Coole junge Menschen mit Kopfhörern auf coolen Fixies rauschen zwischen Bank Hochhäusern an mir vorbei. Hier wird nicht gegrüsst sondern gedrängelt.

Als mich der R1 dann in Richtung Norden am Lee-Canal / Lee-River entlangführt, schliesse ich wieder Frieden mit der Strecke, mit London und mit dem ganzen Tag.

Auf dem Kanal liegen sehr individuelle Hausboote, Narrow-Boats und sogar zum Wohnen umgebaute Rettungsboote. Es gibt eine schwimmende Fahrradwerkstatt. Die Anzahl der Einwohner dieser langgezogenen schwimmenden Stadt dürfte der Anzahl der Einwohner eines eigenen Stadtteils entsprechen.

Ich habe weder die Kronjuwelen noch Westminster gesehen, dafür habe ich aus ganz anderer Perspektive einen oberflächlichen Blick auf die Alltagswelt der Menschen Londons geworfen und einen eigenen schwimmenden Stadtteil entdeckt.

Linksverkehr etc.

Heute möchte ich es ruhig angehen lassen, mich an das Radfahren im Linksverkehr gewöhnen und mich auf England einstellen.

Die Steigung bei Dover mit dem schweren Rad hinaufzufahren ist ein Vorgeschmack auf die weiteren 700 Höhenmeter an diesem Tag. Die engen mit Bäumen und Büschen eingefassten Strassen sind eigentlich schön zu fahren – aber leider folgen sie auch jedem kleinen Hügel und es wird ein kräftezehrendes Auf und Ab.

Trotz guter Vorsätze und vieler Pausen wird das Fahren irgendwann anstrengend und ich bin froh Canterbury zu erreichen. “Strecke machen” wie in Flandern ist hier nicht möglich.

Ich bin überrascht, dass sich die Radfahrer untereinander grüssen. Ich werde mehrfach wohlwollend zum “woher und wohin” und sogar zu meinem Rad angesprochen.

Gegensätze

Morgens fahre ich mit der Fähre über die Westerschelde (Vlissingen – Breskens), abends über den Ärmelkanal (Calais-Dover). Dazwischen liegt eine an Gegensätzen reiche Strecke.

Der Niederländische Abschnitt führt mich auf einem wunderschönen Panoramaweg durch Dünenlandschaften entlang der Küste. Ich bin völlig begeistert und geniesse.

Der Belgische Abschnitt durch Flandern führt mich haupsächlich an Kanälen entlang. Die für Belgien charakteristischen Wohnsilos an der Küste sind in der Entfernung zu sehen. Das leichte Fahren auf den immer noch vorhandenen Radwegen macht meistens Spass.

Der Französische Abschnitt über Dünkirchen ist grauenhaft. Es existiert praktisch keine Radwege Infrastruktur. Die Autofahrer sind rücksichtslos. Ich setze meinen neongelben Radfahrhelm auf und versuche diesen Abschnitt zu überleben und so schnell wie möglich hinter mich zu bringen.

Calais ist schliesslich der Tiefpunkt des Tages: in der Zufahrt zum Fähranleger fahre ich etliche Kilometer an hohen Zäunen mit Stacheldrahtkronen vorbei. Auf den Strassen sind Gruppen junger dunkelhäutiger Männer. Ich fühle mich unsicher und bemühe mich schnell auf die Fähre nach Dover zu gelangen.

Ich bin überrascht, dass ich an nur einem einzigen Tag so unterschiedliche Landschaften, mit so unterschiedlichen Strukturen und vermutlich auch so unterschiedlichen menschlichen Charakteren durchfahren konnte. Jetzt bin ich auf England gespannt!