Wind aus Nordost

Die Strecke heute teilt sich wieder in die drei Streckentypen auf: Stadt, alte Eisenbahntrasse und Küstenstrasse.

Nördlich von Middlesbrough gibt es zwischen den ehemaligen Eisenbahndämmen etwas Schutz vor dem kräftigen und kalten Nordostwind.

Später auf der Küstenstrasse zwischen Sunderland und Newcastle fehlt der Schutz vor dem Wind. Dafür bietet der Blick auf die Brandung der Nordsee Entschädigung. Angesichts der Gewalt der sich brechenden Wellen muss ich an “Southern Cross” denken. Obwohl ich weiss, dass das Boot vergleichbare  Bedingungen bereits beherrscht hat: heute würde ich nicht freiwillig mit “Southern Cross” auf das offene Wasser hinausfahren.

Bei meinem Fahrrad entschuldige ich mich für die heutige ruppige Behandlung. Das schwer beladene Rad erträgt zu spät erkannte tiefe Schlaglöcher, Schlammdurchfahrten und jede Menge Glasscherben ohne Schaden.

Mit Erreichen von Newcastle ist meine Anreise für die Schottlandtour abgeschlossen. Für den Rückweg plane ich von hier aus mit der Fähre nach Amsterdam zurückzufahren.

Yorkshire

Schon nach der ersten Stunde mache ich in Scarborough eine erste längere Pause und freue mich an dem Anblick der Felsenklippen, der Brandung und dem Strand.

Die weitere Strecke auf dem R1 führt entlang einer ehemaligen Bahntrasse. Das hat den Vorteil, dass die Strecke landschaftlich sehr schön liegt und die Steigungen gleichmässig moderat bleiben. Leider ist hier der Weg in sehr schlechtem Zustand. Ich freue mich darauf, wenn die Bahnstrecke Braunschweig-Uelzen in einen schönen Radweg umgewidmet wird.

Bei aller Schönheit der Landschaft – radfahrtechnisch ist die Strecke heute eine Herausforderung (schlechte Strassen/Wege, nicht mehr fahrbare Steigungen, kräftiger Wind aus Nord-Ost) und ich bin froh als ich nach 80km und 1400 Höhenmetern ein “Bed&Breakfast” finde.

Eigenartige Beschilderung

Es regnet heute weniger, dafür ist es kälter geworden. Bis zur Humber-Bridge kurz vor Hull geht es zügig voran. Nach der Mittagspause geht es zu dem schönen Ort Beverley. Ich gehe über den Wochenmarkt, finde ein beeindruckendes “Bicycle Cafe” und habe wieder Freude am Radfahren. Auf den letzten Kilometern vor der Küste muss ich mir zu meiner Überraschung noch ein paar hundert Höhenmeter erarbeiten, bevor ich das Ziel Hunmanby erreiche.

Über manche Beschilderungen an der Strasse wundere ich mich, manche Beschilderungen empfinde ich als Belästigung. Nur wenige Schilder zeigen etwas Relevantes, was nicht schon aus dem Kontext erkennbar wäre. Ich schlussfolger, dass es neben dem Sprechhandeln und dem Schreibhandeln auch ein “Beschilderungshandeln” geben muss. Die Absichten des “Beschilderungshandelns” scheinen häufiger mal verschleiert zu werden.

Bomber County

Der Tag hat nichts Schönes. Es regnet ohne Unterbrechung, die Strassen – von Radwegen nicht zu sprechen – sind in schlechtem Zustand und bilden grosse Pfützen. Viele Auto- und LKW-Fahrer sind rücksichtslos und in Lincoln bekomme ich dann die befürchtete Ganzkörperdusche von einem vorbeifahrenden Auto.

Einzig die Fahrt auf dem Rail Water Way zwischen Boston und Lincoln ist erträglich. Die Geschichten um diesen Wasser- und Schienenweg werden auf einigen Tafeln am Wegrand erläutert. Darunter auch eine Tafel auf der Lincolnshire nicht ohne Stolz als “Bomber County” beschrieben wird.

Im 2. Weltkrieg starteten aus Lincolnshire von etwa 100 Flugplätzen aus die Bomber in Richtung Deutschland. Viele davon haben ihre Bomben über deutschen Städten abgeworfen, viele davon wurden abgefangen (…) und kehrten nicht zurück. In der Kathedrale in Lincoln wird der toten Soldaten/Piloten gedacht. Weil mich heute schon das Radfahren depremiert, beschliesse ich diese Tatsache betroffen zur Kenntnis zu nehmen. Manche Dinge entziehen sich mir einer Unterscheidung in “Gut” und “Böse”.

Seit zwei Wochen bin ich unterwegs, bin an 12 Tagen 1300km gefahren und möchte jetzt endlich nach Schottland und durch schöne einsame Landschaften fahren!!

Ostanglien

Die Herausforderung beim Radfahren besteht heute darin, nicht zu vergesse auf der linken Strassenseite zu fahren.

Die Landschaft sieht aus wie in den Niederlanden, Ostfriesland oder Schleswig-Holstein: Marschland mit grossen landwirtschaftlichen Betrieben, Entwässerungskanälen und Windgeneratoren.

Am Abend lerne ich: Die Region in der ich unterwegs bin, die Grafschaften Cambridgeshire, Norfolk, Suffolk und Essex bildeten das ehemalige Königreich Ostanglien (East Anglia). Dieses Ostanglien wurde im 6. Jahrhundert von den Angeln besiedelt, die ihre Ursprünge in Angeln im heutigen Schleswig-Holstein hatten.

In Wisbech bewundere ich die Tulpenbeete in dem kleinen Stadtpark. Das benachbarte Süd-Holland ist das Zentrum des Tulpenanbaus in England.

Ich übernachte in Boston in Süd-Holland. Beim EU-Referendum haben hier 75% für “Leave” gestimmt. Das höchste Ergebnis der Euroskeptiker in ganz UK. Weit zurückreichende gemeinsame Wurzeln waren kein hinreichender Grund für die Menschen in Boston um sich für eine fortgesetzte EU-Mitgliedschaft einzusetzen.