Rückfahrt

Newcastle ist eine Industriestadt. Industriestädte hatte ich bisher gemieden und werde das auch in Zukunft tun.

Mir bleibt keine Wahl als eine Nacht und einen Vormittag in Newcastle und den Vororten zu verbringen. Was davon für mich bleibt ist nicht Urteilen sondern Staunen: Staunen darüber wie Menschen auch leben, womit sie ihre Tage auch verbringen und was sie auch als schön empfinden können. Mit ein Grund nach England und Schottland zu fahren war, zu verstehen, was zu dem scheinbar unvermeidlichen Brexit geführt hat. Heute stelle ich fest, dass allein durch Radfahren, Staunen und höfliche Konversation keine belastbaren Antworten entstehen. (wäre ja auch eigenartig) Hatte ich mir zu Beginn noch ein paar der klassischen Erklärungsmuster zurechtgelegt, bin ich jetzt zum Abschluss mal wieder ratlos. Was geht hier gerade ab?

Hadrians Wall

Die erste Stunde quäle ich mich über jede kleine Steigung – die nette Wirtin des B&B hat mir ein sehr vollständiges “British Breakfast” zubereitet und aus irgendeinem Grund meinte ich es auch essen zu sollen.

Die für Radfahrer ausgeschilderten kleinen Strassen entlang des Hadrian Wall sind angenehm zu fahren. Gelegentlich führen die Strassen unmittelbar an den Resten der Römer Befestigungen vorbei. Oft frage ich mich aber, welche der vielen Mauern in der Landschaft wirklich die Mauer von Hadrian ist.

Vor dem Zusammenschluss des Northern Tyne und des Southern Tyne kurz vor Hexham muss ich mir einige Höhenmeter erarbeiten. Der dann folgende Abschnitt entlang des Tyne bis nach Newcastle verläuft dann überwiegend auf einer ehemaligen Bahntrasse mit moderaten Steigungen und ist einfacher zu fahren. Interessant finde ich, direkt an dieser Trasse das Geburtshaus von George Stephenson zu finden.

Insgesamt gehört der R72 “Hadrian Wall Cyclepath” zu den schöneren Radstrecken die ich in UK kennengelernt habe, neben den Strecken entlang des Caledonia Canal, in den Northern Highlands und – natürlich – den Shetlands.Die Radtour durch England und Schottland endet in Newcastle. Die Fähre nach Amsterdam ist gebucht und ich erwarte bald wieder in Gifhorn zu sein.

Im Zug über die Berge

Der Plan vom Vorabend ist, mit einer Fährfahrt zu den Äusseren Hebriden den Regentag zu überbrücken und mich im Anschluss mit mehreren Fährfahrten über die Südlichen Hebriden an den Bergen des Trossachs Nationalparks vorbei zu mogeln.

Als ich die Tickets für die kunstvoll zusammengestellte Minikreuzfahrt kaufen möchte muss ich leider feststellen, dass eine wesentliche Fähre im Moment nicht fährt.

Die Sustrans Beschreibung empfiehlt die weitere mögliche Radstrecke von Oban in Richtung Süden (Campbeltown) für sportlich ambitionierte Fahrer. Inzwischen kann ich solche Formulierungen einordnen und kaufe mir notgedrungen ein Ticket für den Zug nach Glasgow und weiter nach Carlisle.

Das Fahrradabteil ist winzig und ein Fahrradticket wird mir erst nach einer halben Stunde Wartezeit ausgestellt, nachdem mögliche Vorreservierungen geklärt sind. Fahrräder sind in UK selten.

Die langsame Fahrt mit dem Zug durch die Berge – fast wie die Brockenbahn – ist eindrucksvoll und ich bin froh jetzt nicht auf einem Wanderweg mein Rad zu schieben.

Als ich in Carlisle den Zug verlasse hat der Regen aufgehört. Auf ruhigen Strassen bei angenehmen Temperaturen fahre ich ein paar Kilometer auf dem Hadrian-Wall-Radweg bevor ich mir in Banks ein B&B suche.

Im Regen nach Oban

Die Nacht im Zelt ist trotz einsetzenden Regens und einiger Windböen gemütlich. Ungemütlich wird es durch den Regen erst beim Frühstücken, Zeltabbauen und Beladen des Rads.

Bei allen Widrigkeiten ist zumindest der Radweg relativ neu und fast durchgängig. Nur an wenigen Stellen muss ich auf der vielbefahrenen Hauptstrasse fahren.

Weil Wetterbericht und Himmel erstmal keine Besserung  erwarten lassen fahre ich nur bis Oban, nehme dort ein Zimmer und trockne mich und meine Sachen.

Oban ist ein hübscher kleiner Ort und Ausgangspunkt vieler Fährverbindungen zu den Hebriden. Die vielen Restaurants werden von entsprechend vielen Touristen genutzt. Deutsch ist neben Englisch eine häufig gesprochene Sprache.

Ein Artikel in ZON und eine Erfahrung der letzten Tage bestätigt mich in der Überzeugung, dass menschliche Gehirne entgegen allen Hoffnungen utilitaristisch erscheinende sehr komplexe “Syntaktische Entscheidungsmaschinen” sind.

Auf einer einspurigen Strasse nähere ich mich mit dem Rad einer Ausweichstelle. Eine mir entgegenkommende vorsichtig fahrende Autofahrerin sieht mich und hält in der Ausweichstelle an. Bevor ich die Ausweichstelle erreiche überholt mich ein Motorradfahrer und passiert das wartende Auto. Die nette Autofahrerin fährt wieder an und passiert mich knapp ausserhalb der Ausweichstelle. Ihr Warten galt dem Motorradfahrer, nicht dem Radfahrer.

Was anderes als eine unbewusste Nutzenabwägung kann den Unterschied im Verhalten erklären, wenn man nicht “bösen Willen” bemühen möchte?

Wie hätte sich ein autonom fahrendes Auto verhalten und unter welchen Bedingungen wären wir bereit diesem ein ethisches Verhalten zuzugestehen? Ich vermute im Moment, dass ausschliesslich Komplexität und Ähnlichkeit der “Syntaktischen Entscheidungsmaschinen” unsere Intuition über “ethische” oder “menschliche” Qualität bestimmen. Ein Thema zur weiteren Behandlung, wenn ich wieder zuhause bin.

Caledonia Canal

Gestern war ein frustrierender Tag. Zunächst ging es über unangenehme Berge und am Nachmittag auf der Hauptstrasse am Loch Ness entlang. Froh Fort Augustus ohne Unfall erreicht zu haben gebe ich auf und suche mir früh ein Bett im Hostel.

Heute stelle ich fest, dass es für das Radfahren entlang der Lochs überhaupt nur zwei Optionen gibt: entweder selbstmörderische Fahrt entlang der Hauptstrasse oder auf der anderen Seite Fahren auf anspruchsvollen Mountainbike Strecken. Ich mag beides nicht.

Dafür ist die Fahrt zwischen den Seen entlang der Kanalstrecken wunderschön. Ich geniesse das einfache Radfahren und gleichzeitig ein tolles Bergpanorama. Diese Kombination ist einzigartig.

Hinter der Schleusentreppe vor Fort William (10 Schleusentore, wenn ich mich nicht verzählt habe) beginnt der Bereich der See. Der augenscheinlich grosse Tidenhub lässt eine interessante Uferlandschaft entstehen.

Zum erstenmal seit den Niederlanden nutze ich wieder das Zelt. Die Siedlungen liegen weiter auseinander und eine sinnvolle Alternative ist nicht in der Nähe als es Zeit für die Suche nach einer Unterkunft ist.

Im Zelt sehe mir die Karten an und habe keinen guten Plan für die Strecke der nächsten Tage. Einerseits komme ich langsamer voran als ich es gewohnt bin (Müdigkeit, Strassenverhältnisse, Wind). Andererseits reizt mich die Fahrt durch Glasgow und quer durchs Land in Richtung Newcastle nicht besonders. Ich werde erstmal weiter an der Küste bleiben und auf eine gute Eingebung für den Rückweg nach Hause warten.