Grundsätzliche Fragen nach dem Sinn des Radfahrens

Nachdem ich gestern Abend schon die letzten Kilometer auf der “Estrada Atlantica” gefahren war, setze ich die Fahrt heute auf dieser Strasse fort. Eine sehr angenehm zu fahrende Strasse: wenig Steigungen und ein abgetrennter Radweg!

Mir kommen mehr Rennradfahrer als Autos entgegen. Die Strasse führt direkt an den Dünen entlang und über weite Strecken vorbei an verbrannten schwarzen Kiefern(?)wäldern. Es hat hier 2017 grosse Waldbrände gegeben.

Der übliche Nordwind scheint auf West bzw. Südwest gedreht zu haben und ich komme gut voran. Nach einer kurzen Fährfahrt geht es von Aveiro bis Ovar direkt an der Lagune Ria de Aveiro entlang.
Ich beschliesse diese angenehme Flachetappe in Furadouro etwa 2-3 Fahrstunden vor Porto. Der Hausherr meines Quartiers zeigt grosses Interesse an meiner Tour. Er berichtet von vielen Wanderern, die in dieser Jahreszeit auf dem portugiesischen Jakobsweg unterwegs seien und von Radfahrern, die allerdings immer nur 60-70km pro Tag fahren würden. Nachdem ich meine Fahrweise erklärt habe, haben wir eine lange grundsätzliche Diskussion über den Sinn des Radfahrens. Ich könne ja nicht berichten was ich gesehe habe, weil ich ja nur radfahren würde. So wie ich fahren würde, könne ich nur alleine fahren etc. Der gute Mann hat Recht, mir war das auch schon aufgefallen. Eigentlich müsste meine Tour so aussehen und beschrieben werden. Ich habe keine Ahnung, warum ich fahre wie ich fahre und warum mich Dinge nicht interessieren, die mich interessieren sollten.

Schlechte Nachrichten

Seit zwei Tagen merke ich, dass irgendwas mit dem Hinterrad nicht in Ordnung ist. Schon mehrfach habe ich Speichen und Felge kontrolliert, dabei aber nichts feststellen können. Heute nehme ich mir an einer ruhigen Strasse etwas mehr Zeit und stelle entsetzt fest, dass ein Speichenloch an der Rohloffnabe einen Riss hat! Das ist unterwegs nicht reparierbar. Mit Glück hält das Hinterrad jetzt noch bis Gifhorn durch, mit Pech zerlegt sich irgendwann das Hinterrad innerhalb weniger Kilometer – das wäre dann das Ende der Tour.
Ausserdem verliert die Vorderbremse Hydrauliköl und ich nutze die Vorderbremse nur noch im Notfall. Für steilere längere Abfahrten reicht die hintere Bremse allein nicht aus und die richtig heftigen Berge kommen erst noch. Mein schon länger gefasster Vorsatz “nie wieder Hydraulikbremsen” nützt mir jetzt nichts. Jetzt ist der befürchtete Fall eingetreten.

Überhaupt nervt mich das Radfahren hier in Portugal zunehmend mehr und die gelegentlichen “Belohnungen” – wie manche Aussichten auf den Atlantik – haben es schwer, meine Stimmung wesentlich zu verbessern. Als Massnahme zur Verbesserung der Stimmung beschliesse ich, nicht mehr über den Tourismus hier an der Küste zu lästern. Ich habe schliesslich diese Strecke selbst gewählt.

Gelegentlich ergänze ich meine Foto Sammlung von Ruderbooten, die zur Dekoration an Strassen aufgestellt wurden. Hier ein “Zweier mit Steuermann”.

Bergetappe

Den gestrigen Ruhetag in Lissabon habe ich mit Wäschewaschen und Ausruhen verbracht. Man kann in Lissabon auch viele andere nette Dinge tun – allein mir fehlt die Energie dazu. Statt dessen mache ich mir Sorgen über den kommenden Tag auf der Strasse.

Bis zum Mittag bleibe ich im Grossraum Lissabon. Viele Abschnitte an der Küstenpromenade sind angenehm zu fahren – ich fahre zwischen Joggern und Spaziergängern an Badestränden entlang. Leider sind diese Abschnitte nicht untereinander verbunden und ich werde dazwischen immer wieder auf stark befahrene Autostrassen gezwungen.
Nach dem Mittag beginnt die Kletterei auf engen Landstrassen. Die Strassen haben keinen Seitenstreifen und das Fahren fordert viel Konzentration. Ein Hund hinter einer ca. 1.30m hohen Mauer bellt, springt über die Mauer, stürmt wütend bellend auf mich zu und begleitet mich ein Stück.

Ericeira ist über Autobahnen gut an Lissabon angebunden. Der eigentliche Ort ist hübsch und beschaulich, im Umfeld des Ortes sind die Zeichen des Tourismus unverkennbar.
Bei mehr als 1000Höhenmetern auf 100km liegt meine persönliche Grenze für die Einstufung zur “Bergtappe”. Die 1000Höhenmeter kommen heute fast vollständig am Nachmittag zusammen. Mein ursprüngliches Ziel – Santa Cruz – erreiche ich nicht, finde dafür aber eine völlig touristenfreie Unterkunft mit angeschlossener Churrasquaria. Mein Proteinbedarf ist erstmal gedeckt.

Lissabon

Eigentlich hatte ich nicht mehr damit gerechnet heute Lissabon zu
erreichen.
Am Vormittag passiere ich den Monte Chaos bei dem Versuch die Innenstadt von Sines zu umfahren. Die Openstreetmap Daten sind offensichtlich ungenau, meine 1:200000 Karte ist es ebenfalls. Es wurden prachtvolle und kaum genutzte Autobahnen und Autobahnkreuze in die Landschaft zwischen Öllager und Industriezonen gebaut. Dabei wurden ursprüngliche Wege ohne Ersatz unterbrochen. Ich erlebe eine Querfeldein Tour zwischen Stacheldrahtzäunen, durch Maschendrahtzäune hindurch, vorbei an alten noch bewohnten Häusern vor denen Menschen ihren Acker bestellen, auf der Autobahn und durch eine Ziegenherde hindurch. Dabei folge ich nur zwei Grundsätzen: keine Autobahn direkt überqueren und nicht in gesicherte Industrieanlagen eindringen. Ich betrachte es als Training für eine mögliche spätere Radtour durch Indien.
Hinter Sines komme ich auf einer schönen neuen unbefahrenen Strasse, die parallel zu einer schönen neuen und ebenfalls unbefahrenen Autobahn verläuft, regulär und zügig voran.
Der landschaftlich schönste Abschnitt ist schliesslich die Strecke auf der Landzunge zwischen Atlantik und dem Rio Sado.

Bei der Überfahrt nach Setubal gehen ein paar Gedanken an den dortigen VW-Standort in Palmela – irgendwie hat es sich nie ergeben, dass ich diesen Standort hätte besuchen sollen. Nun ja…

Weil ich um 17Uhr in Setubal ankomme, beschliesse ich doch noch bis
Lissabon weiterzufahren. Es wird die erwartbare Quälerei. Sie beginnt mit einem heftigen Anstieg gefolgt von sehr dichtem Strassenverkehr, Staus an denen ich mich vorbei schlängel, Müdigkeit/Erschöpfung und einer weiteren Fährfahrt. Erst nach Sonnenuntergang beziehe ich ein Zimmer in Lissabon und bedauere, dass ich heute nicht mit Frau und Freunden eine gepflegte Radtour in Gifhorn unternommen habe.

Die Süd-West Ecke

Gestern starte ich relativ spät in Lagoa. Zur Mittagszeit bin ich in Lagos. Auch dort herrscht reger Tourismus, aber ich empfinde es zu dieser Jahreszeit noch nicht als unangenehm.

Mit jedem Kilometer in Richtung Westen wird die Landschaft schöner, die Besiedlung weniger und das Radfahren anstrengender. Der Wind weht aus Nord-West und es sind einige Anstiege (bis zu 20%!) zu erklettern.
In Vila do Bispo sehe ich einige Wanderer, auf dem anschliessenden Weg in Richtung Norden kommen mir mehrere Radwanderer entgegen. Statt der sonst unvermeidlichen weissen Standardwohnmobile vom Typ “Kühlschrank” fahren hier die selbst ausgebauten Bullis und Hochdach-Sprinter, viele mit Deutschem Kennzeichen.
Ich übernachte in Carrapateira – offenbar das Mekka der europäischen Surfer. In der einzigen offenen Kneipe wird Deutsch und Niederländisch gesprochen.
Während des Vormittags fahre ich heute weiter auf ruhigen Strassen durch eine schöne hügelige Landschaft in Richtung Norden. Hinter Odeceixe wird die Landschaft offener und flacher, dafür nimmt der Strassenverkehr zu und einige LKWs zwingen mich zu einem Ausflug in den Randstein. Rücksichtslosigkeit gegenüber Radfahrern scheint eine universelle
menschliche Eigenschaft zu sein. Wenn das so ist, dann nützen keine
individuellen Ansprachen, dann muss man über ganz andere Lösungen
nachdenken.

Schliesslich erreiche ich den kleinen hübschen Hafenort Porto Covo. Während ich bei einem Glas Wein den Blog schreibe, verfolge ich die an ein Paar gerichtete Lebenserzählung eines Deutschen im Restaurant auf der anderen Strassenseite. Die Erzählung wird kraftvoll und flüssig vorgetragen und spart nicht mit Details der ehemaligen und der aktuellen Familie. Ich wundere mich, dass seine junge Brasilianische Frau/Freundin noch nicht vor Scham im Boden versunken ist – sicher ist es gleich soweit. … Nein! Die Opferzuhörer verlassen das Restaurant. Die Verabschiedungsformel lautet “Danke für das nette Gespräch”