Berge und Gegenwind

Ich bin jetzt eindeutig im Sport Modus.

Gestern muss ich zu meiner Überraschung auf dem Weg nach Leon noch über einen weiteren Pass, bevor ich die Hochebene erreiche.
Heute habe ich mit einer lockeren Flachetappe gerechnet und kämpfe mich statt dessen mühsam gegen kräftigen Nord-Ost Wind voran. Trotz einiger landschaftlich schöner Perspektiven finde ich im Moment keinen Anreiz irgendwo länger zu bleiben. Ausserdem muß ich feststellen, daß eine weitere Speiche am Hinterrad – diesmal aus der Felge – gerissen ist. Das Hinterrad wird also in absehbarer Zeit seine Eigenschaft des Radseins verlieren. Ich hoffe, daß es mich wenigstens noch die ca. 350km bis zur französischen Grenze bringen wird.
Ein geschätzter Mensch schreibt mir, daß ein Vorteil des langsamen Fahrens darin bestünde, daß man über alles mögliche nachdenken könne und sich kreative Gedanken entwickeln könnten. Das trifft für mich nur sehr bedingt zu. Die meiste Zeit denke ich über Berge, Wind, Kilometer und das Hinterrad nach: Wodurch unterscheidet sich das “Radsein” vom “Rotsein”? (das eine ist offensichtlich eine Eigenschaft, die sich spontan ändern kann) Was unterscheidet substantivierte Adjektive von substantivierten Verben? (rot, die Röte vs. rollen, das Rollen, das Rollende, das Rad) Gibt es eigentlich Funktionenrealismus? usw.

Ich fahre lange Strecken direkt am Jakobsweg entlang, der hier direkt neben der gut ausgebauten und wenig befahrenen Strasse verläuft. Auch hier (300km von Santiago entfernt) kommen mir noch viele Wanderer entgegen. Im Unterschied zu Santiago grüssen hier praktisch alle mit einem “Bon Camino” – was für mich auf die Dauer etwas mühsam wird. Mir fällt auf, daß etwa die Hälfte der Wanderer fernöstliches Aussehen haben und die örtliche Gastronomie sich offenbar auf diesen Umstand eingestellt hat.
Ein entgegenkommender Radfahrer kommt auf meine Strassenseite und hält an. Marcello aus Argentinien spricht weder Englisch noch Deutsch. Ich spreche keine seiner Sprachen. Wir unterhalten uns trotzdem prächtig über den Wind und über die bisher gefahrene Strecke, wünschen uns gegenseitig alles Gute, klopfen uns zur Bestätigung brüderlich auf die Schultern und fahren schliesslich weiter – er mit Rückenwind und ich mit Gegenwind.

Am Abend in Osorno bekomme ich schließlich einen Bericht von einer Motorradtour durch Spanien, Portugal, Marokko, Mauretanien und Senegal. Nachdem ich mein Leid mit dem Hinterrad geklagt habe bleibt die Frage unbeantwortet, ob sein Katalysator den Sprit im Senegal überlebt hat. Irgendwie finde ich die Vorstellung tröstlich, daß auch anderen etwas kaputt geht.

Von Galizien über die Berge nach Kastilien

Als ich aus Santiago de Compostela in Richtung Osten herausfahre kommt mir ein Strom von Wanderern (geschätzt 2Wanderer pro 100m, bei 6km/Std. sind das 120Wanderer/Std. oder 600Wanderer/5Std.) unter Regencapes an der Hauptstrasse entgegen. Am frühen Nachmittag hört der Regen auf und ich verlasse die Caminho Hauptstrecke nördlich in Richtung Lugo. Kleine gute Strassen, kleine Dörfer, kleine Landwirtschaften, wenig Verkehr, grüne Wiesen mit Steinmäuerchen eingefasst, Wälder und … viele Hügel. Galizien ist schön, eine solche Landschaft habe ich nicht in Spanien vermutet.
Hinter Lugo fahre ich neben der Autobahn auf der “N-VI”, die mich bis Ponferrada bringen soll. Die Strasse ist kaum befahren, in gutem Zustand und ideal zum Radfahren. Irgendwo in einem Hotel an der Strasse vor dem Anstieg zum 1099m-Pass bei Pedrafit übernachte ich.

Widerwillig beginne ich heute mit den Anstiegen, werde aber durch wunderschöne Landschaften und hübsche kleine Orte entlohnt.
Mit Überqueren des Passes habe ich Galizien verlassen und befinde mich in Kastilien. Das Landschaftsbild ist schlagartig anders, die Vegetation ist weniger üppig als vorher.
Am Abend bleibt noch Zeit für einen Rundgang durch die Altstadt von Ponferrada und für einen Blick auf die alte Burg.

Die beiden letzten Tage hatten viele Höhenmeter. Mein Radreiseführer für den Jakobsweg unterteilt die Strecke Ponferrada-Santiago daher in drei schwere Tagesetappen. Ich habe etwas an meiner Bergfahrtechnik gefeilt (u.a. den Sattel nochmal leicht verstellt) um ausdauernder lange Anstiege fahren zu können. Neidisch habe ich den Rennradfahrern mit ihren 7kg-Rädern hinterhergesehen und über ein leichteres Rad (vor allem ohne schwere Hydraulikbremsen!) nachgedacht.

Ruhetag in Santiago de Compostella

Gestern auf der letzten Etappe bis Santiago de Compostela wechsel ich zwischen Hauptstrasse und Caminho (Jakobsweg). Immer wenn mir der Verkehr auf der Hauptstrasse zuviel wird, biege ich auf den Caminho ab. Nach einer Weile nervt mich das langsame Fortkommen dann sosehr, dass ich den Stress der Haupstrasse wieder akzeptiere.
Immer noch bin ich verwundert, wie schnell sich der Charakter der Tage verändert. Den einen Tag fahre ich bei Sonnenschein und Hitze entlang von Dünen am Atlantik, den nächste Tag fahre ich bei Regen und Wind durch eine hügelige dünn besiedelte Landschaft.

Heute ist Ruhetag und es regnet ohne Unterbrechung. Eine Szene im Waschsalon: Ein Mann kommt mit schwerem Gang und mit filmendem Handy herein. Er filmt sich, mich, die Waschmaschinen und die Hinweisschilder. Die Dame des Waschsalons richtet ein paar Grussworte an seine kolumbianische Fangemeinde. Schließlich ist die Performance beendet und er muss seine Wäsche in den Trockner umräumen.

In der Stadt treffen die Wanderer (besser “Pilger”?) auf Besuchergruppen von Kreuzfahrtschiffen und normale Touristen. Einigen Menschen sieht man an, dass es Sie einige Energie gekostet hat hier anzukommen. Ich sitze auf dem Platz vor der Kathedrale und spüre einer Atmosphäre aus Sport, Stolz, Nachdenklichkeit, Religiosität, Internationalität, Individualität und Gemeinschaftsgefühl nach.

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Die vielen Hinweise an der Straße auf EU-Förderung des Caminho wundern mich nicht. “Caminho/Jakobsweg” ist eine starke europäische Marke, an der es sich lohnt teilzuhaben.

Ich ziehe Zwischenbilanz nach zwei Wochen: 1300km, 10.000Höhenmeter, angeschlagene Hinterradnabe, Problem mit der Vorderradbremse, die rechte Ferse schwillt langsam ab, ein Regentag. Die Gegend um Albufeira und Lissabon herum gefällt nicht. Gefallen haben mir der Donana Nationalpark, der Naturpark “Sudoeste Alentejano e Costa Vicentina”, die Estrada Atlantica zwischen Nazare und Vieira da Leiria, Porto einschliesslich Umgebung und Santiago de Compostella.

Albergue de Redondela

Nach dem Kopfsteinplaster vom Vortag lasse ich mich auf keine weiteren Experimente ein und fahre durchgängig auf der Hauptstrasse bis zur Grenze nach Spanien. Der Himmel ist bedeckt, Regen ist für heute und morgen angekündigt.

An Strassenkarten habe ich “Portugal-Süd” 1:200000 (ein Weihnachsgeschenk) und einzelne Seiten aus dem “Grossen Strassenatlas Europa” 1:500000 dabei. Vor der Fahrt habe ich “Tracks” der Strecke von anderen
Radfahrern/Wanderern als Referenzen auf das Garmin geladen. Die etwas feinere Planung am Vortag mache ich mit OSMAND. Wenn nötig, erzeuge ich dabei eine “Route” und lade diese zusätzlich auf das Garmin. Während des Fahrens nutze ich neben der Darstellung der vorbereiteten “Tracks” zusätzlich die “Routing” Funktion des Garmins. Grundlage aller
elektronischen Planungen sind die aktuellen OpenStreetMaps. Man könnte glauben, dass diese Wunderwerke der Technik immer zu gleichen Ergebnissen kommen – das ist nicht so. Oft kann ich zwischen zwei oder drei Varianten wählen. Und die letzte Entscheidung treffe ich ohnehin auf der Strasse.

Zum Fahren ist heute soviel zu sagen: Das Klettern im “Parque Natural do Monte Aloia” ist schön und anstrengend, die Durchfahrt durch das Stadtgebiet von Vigo (“spanisches Gelsenkirchen”) ist elendig und gefährlich. Ich frage mich, wie die Wanderer dieses Stück überstehen.
Als der angekündigte Regen einsetzt, erreiche ich 20km hinter Vigo eine Pilger Herberge. Ich teile mir mit zwei Männern eine Viererkabine in einem grossen Schlafsaal. Diese Kabinen haben etwa die Grösse eines Schlafwagenabteils im Zug. Ein “Böd” auf den Shetlands wäre mir lieber.

Kopfsteinpflaster

Die 20-30km vor und nach Porto sind angenehm und auf guten Wegen zu fahren. Anders als bei der Fahrt durch die Vororte von Lissabon ist der Radweg hier durchgängig.
Mir kommen einige Radwanderer mit verdächtig standardisierter Ausrüstung (Navi, Kartenhalter, Packtaschen) entgegen, offenbar haben sie gerade eine vorbereitete Radtour begonnen. Die Reiseveranstalter haben Recht damit, die Strecke von Porto in Richtung Süden anzubieten und rechtzeitig vor Lissabon enden zu lassen.
Bei der Einfahrt in die Stadt mache ich einige Fotos – die pittoresken Gebäude, die Brücke und die Schiffe sehen toll aus.

Vor den “Caves” kann ich den dort ausgeschenkten Portwein schon auf der Strasse riechen.

Kurz hinter Porto ruft mir ein Kneipenbetreiber über die Strasse zu: “Santiago Sir? Do you want to have a stamp? Stempel?”. Ich lehne ab und nehme zur Kenntnis, daß ab jetzt der Spuk um den Jakobsweg beginnt. Es sind noch gut 200km bis Santiago de Compostella und ich sehe etliche Wanderer mit Rucksack und Jakobsmuschel. Der ausgeschilderte Jakobsweg führt hier durch die Dünen und ist für Radfahrer an vielen Stellen gesperrt und vermutlich auch nicht empfehlenswert. Ich halte mich daher auf dem Radweg in der Nähe der Küste bis dieser endet und es auf einer kleinen Kopfsteinpflasterstrasse weitergeht – soweit eine normale Erfahrung. Neu wird die Erfahrung, als dieses Kopfsteinpflaster nach einigen Kilometern nicht enden will. Ich muss feststellen, dass es hier abseits der Hauptstrasse ausschliesslich reine Kopfsteinpflasterstrassen gibt (nicht einmal ein schmaler Asphaltstreifen am Rand). An mein vorgeschädigtes Hinterrad denkend rumpel ich notgedrungen die letzten Kilometer des Tages langsam meinem Ziel entgegen.