Der Anfang vom Ende

Den gestrigen Zwangs-Ruhetag verbringe ich für einige Stunden im Flugplatz-Cafe Borkenberge. Es sitzen dort hauptsächlich Männer in meinem Alter und üben sich in technischer Selbstvergewisserung mit Vokabeln wie „Kontrollzone, VOR, Glascockpit“ (Piloten), „Landstraße, 130km/h, Autobahn“ (Harley-Fahrer) oder „50km Reichweite, erste Fahrstufe“ (Pedelec-Fahrer).

Heute früh bringe ich das Rad zu einem Radladen in Dülmen. Der Monteur, der mir den Reifen wechselt, bestätigt alle meine Vorbehalte gegen Fahrradmechaniker. Ob Kettenspannung, Montage des Chainglider oder Luftdruck: der gute Mann hat offensichtlich keine Ahnung von dem was er tut. Auf entsprechende Nachfrage zeigt aber auch er (wie gestern die Piloten und die Harley- und Pedelec-Fahrer) ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Darstellung technischer Kompetenz.

Ich kenne diesen Hang zum Reden über Technik und frage mich während des Fahrens, welchen evolutionären Vorteil dieses Verhalten haben mag. In der Sache kann dieser Vorteil nicht liegen, sonst gäbe es kein inkompetentes Reden über Technik. Einen Fortpflanzungsvorteil gibt es nicht, weil Frauen sich für dieses Reden nicht interessieren. Aber was ist es dann?

Das Rad hat jetzt hinten den viel verkauften Schwalbe-Marathon-Mondial Reifen (s.a. Holländer in Huelva). Der Reifen fühlt sich wie ein Treckerreifen an. Möglicherweise ist er etwas robuster als meine bisherigen Continental-Reifen (12.000km statt 10.000km), aber so macht das Fahren wenig Freude. Bis Gifhorn werde ich es irgendwie aushalten. Kein Mensch braucht auf europäischen Strassen solche Reifen. Wenn ich mir vorstelle, daß in Fahrradgeschäften regelmäßig teure Räder mit diesen Reifen (und zu geringem Luftdruck) vorgeführt werden, dann kann ich das steigende Bedürfnis nach elektrischer Unterstützung gut nachvollziehen. Ein gutes, gepflegtes und passendes Rad läuft sicher so leicht wie ein Pedelec in der ersten Fahrstufe mit diesen Reifen, schlechter Sitzposition und schlecht gewartetem Antrieb.
Hinter Münster komme ich wieder auf die Strecke, die ich im letzten Jahr in Richtung Westen gefahren bin. Die Reisestimmung ist vorbei. Jetzt werden nur noch die fehlenden Kilometer bis Gifhorn runtergefahren. Ich rufe mir einzelne Strecken der letzten Wochen in Erinnerung. Wie fühlte sich die Fahrt am ersten Tag nach Matalascanas an, wie die Regenfahrt durch Biarritz und wie die lange Etappe in der Champagne?

Der Beobachter

Ich habe überhaupt keine Lust durch Dormagen, Düsseldorf, Ratingen, Mülheim etc. zu fahren und tue es trotzdem. In dieser Gegend bin ich immer wieder mal herumgefahren und ich konnte dort bisher nichts Schönes sehen.
Vielleicht liegt es am guten Wetter und dem Rückenwind, die Fahrt wird nicht so schlimm wie befürchtet. Die Fahrt vor Dormagen am Rhein ist nett, die Parkanlagen in Düsseldorf sind ganz okay und der Wochenmarkt in Ratingen ist akzeptabel. Am Gasometer in Oberhausen ist es so richtig hässlich und manchmal ist es einfach nur anders trostlos als erwartet.
Meine Theorie, warum ich hier trotzdem fahre, geht so:
Ich beobachte mich, wie ich beim Fahren beobachte (und ich werde beim Beobachten meines Beobachtens in Teilen mit Hilfe dieses Blogs beobachtet). Möchte ich Strukturen erkennen, dann muss ich meine Beobachtungsbedingungen (erster Stufe) so gut wie möglich konstant halten. Ich muss die Landwirtschaft in Portugal zur fast gleichen Zeit (Frühjahr 2019) und unter gleichen Bedingungen (radfahrend) wie Mülheim a.d.R. beobachten. Vielleicht habe ich gelegentlich alte und neue Beobachtungen vermischt, unzulässige Schlüsse gezogen und muss jetzt meine Bilder revidieren?

Mein Ziel ist Münster/Hiltrup. 25km vor dem Ziel entweicht auf einen Schlag die Luft aus dem Hinterrad. Hinterrad ausbauen, Mantel abnehmen und auf spitze Gegenstände absuchen… dabei finde ich ein kleines Loch zwischen Draht und Seitenwand. Ich bin Optimist, baue einen neuen Schlauch ein, der nochmal 3km hält und dann ebenfalls platzt. Weil ich keinen Ersatzmantel habe, es Samstagabend und ohnehin kein Fahrradgeschäft in der Nähe ist, habe ich jetzt ein Problem.

Es ist mein erster Platten mit diesem Satz Continental-Reifen nach 10.000km. Die 12.000km der Schwalbe-Reifen des Holländers in Huelva habe ich nicht erreicht. Ich schiebe das Rad 6km bis zu einem Campingplatz in der Nähe des Flugplatz Borkenberge und werde mir morgen einen Plan überlegen, wie das Problem zu lösen ist.

Himmelfahrtstag am Rhein

Es ist Himmelfahrt / Vatertag und ich fahre an der Ahr zwischen Weinbergen zum Rhein hinunter. Der Radweg folgt in vielen Abschnitten der Trasse der Eisenbahn unmittelbar neben den Gleisen. In Bad Kripp besuche in den Friedhof und fahre weiter auf dem Radweg am Rhein in Richtung Bonn und Köln.
Der Radweg ist heute nicht nur eine Hauptstrecke für viele Radwanderer sondern auch für Vatertagsausflügler. An einzelnen Stellen ist der Weg entsprechend überlaufen.

Es ist lange her, daß ich hier mit dem Rad gefahren bin. Trotzdem wirkt alles vertraut. Der interessantere Teil meiner Radreise von Sevilla nach Gifhorn ist beendet. Einige Kilometer vor Köln bin ich mit meiner Tochter verabredet. Die letzten Kilometer bis Köln fahren wir gemeinsam, essen Pommes und Bratwurst an der „Tatort-Pommesbude“ und fahren weiter durch die Kranhäuser und am Dom/Hauptbahnhof entlang. In nur vier Stunden Zugfahrt könnte ich zurück in Gifhorn sein.

Vor dem letzten Abschnitt Köln – Gifhorn per Rad gibt es morgen einen Ruhetag mit Stadtbesichtigung, Streckenplanung und den üblichen Notwendigkeiten.

Wieder in Deutschland

Bei schönem Wetter beginnt der zweite Tag der Tour über die Ardennen und die Eifel.
Ich bin beim Fahren der vielen Anstiege jetzt viel entspannter. Mir ist aufgefallen, daß ich beim Fahren langer Anstiege das Gefühl für die tatsächliche Steigung verliere und nur merke, daß ich langsamer werde. Unbewußt habe ich versucht mit höherer Kraft/Leistung zu kompensieren und mich damit überfordert. Inzwischen versuche ich, die tatsächliche Steigung durch andere Beobachtungen zu ermitteln. Was sagt das Navi bzw. der Höhenmesser? Strömt das Wasser im Bach neben der Strasse in Fahrtrichtung oder kommt es mir noch entgegen? (Ich hatte in Norwegen irgendwann tatsächlich vor dem Ende eines längeren Anstiegs den Eindruck, daß das Wasser den Berg hinauf fliesst…) Ich vermeide Motivationstricks („noch eben schnell über diese Kuppe“) und habe mir angewöhnt, stärker auf meine eigene Anstrengung zu achten und mir ein „Langsam Fahren“ vorzusagen.

Langsam und ohne mich zu überforden fahre ich Anstieg für Anstieg durch Luxemburg und Ostbelgien, über die Maas-Rhein Wasserscheide und schließlich über die Grenze nach Deutschland.
In Ostbelgien wurden viele kleine Eisenbahnstrecken zu sehr guten Radwegen umgebaut (RAVel). In England hatte ich ähnliche Wege in oft schlechtem Zustand vorgefunden, an der französischen Atlantikküste waren sie in gutem Zustand, aber leider manchmal monoton zu fahren. Die RAVel-Wege in den Ardennen und in der Eifel sind in gutem Zustand und abwechslungsreich. Leider gilt auch hier, daß diese schönen Wege nicht gut untereinander verbunden sind und gelegentlich riskante Fahrten neben schweren LKWs notwendig bleiben.

Seit zwei Tagen ärgere ich mich über mich. In Mouzon hält ein deutscher VW-Bulli am Strassenrand, die Fahrerin kommt auf mich zu und fragt nach dem „richtigen Einstieg“ in den Radweg entlang der Maas. Man habe ihr berichtet, daß der Weg noch nicht vollständig fertiggestellt und befahrbar sei. In dem Bulli sind zwei weitere Frauen und drei Fahrräder. Meine bescheuerte Reaktion: Die Maas sei hier. Hier sei – ohne daß ich Details wisse – in jedem Fall der richtige Ort um den Bulli abzustellen und die Räder zu nehmen. Alles weitere kläre sich ohnehin beim Radfahren. Ich frage mich, ob ich in diesem Leben nochmal erwachsen werde?

Bon courage

Das Leben auf dem Schloß macht mich schon innerhalb weniger Stunden träge und bequem. Die Abfahrt wird mir mit einem inoffiziellen Lunchpaket (unter dem Siegel der Verschwiegenheit) und einem aufrichtigen „Bon courage“ etwas erleichtert. Dieser Aufenthalt setzt neue Maßtäbe. Die vielen Überreste erschossener Tiere an den Wände müssen aber nicht unbedingt sein.
Während der Fahrt sinne ich über eine Rudertour auf dem Maas Kanal (Canal de la Meuse) einschließlich Schloßübernachtung. Am Abend vorher hatte ich in dem kleinen Hafen von Mouzon drei Niederländische Schiffe gesehen.

Nach 400 Höhenmetern bin ich in Belgien und bekomme nach langer Zeit meine ersten Fritten. 1000 Höhenmeter später verlasse ich Belgien wieder um in Luxemburg zu übernachten.
Die Ardennen sind schön, noch schöner sind sie ohne Regen, bei etwas höheren Temperaturen und ohne Gegenwind.